Donald Trump hat der regelbasierten Weltordnung den Krieg erklärt äußert den Wunsch die Nato zu verlassen und agitiert offen gegen die europäischen Verbündeten. Warum dieses Schreckenszenario für die Transatlantiker und der Albtraum aller Diplomaten das beste sein könnte, was den Europäern in diesem Jahrhundert passieren konnte, möchte ich hier einmal erläutern.
Was ist eigentlich die Nato?
Wenn man Völker beherrschen möchte, dann tut man dies am effizientesten nicht durch direkte Gewalt, sondern durch Institutionalisierung der Macht. Wenn man dies nicht tun würde, müsste die Macht ständig nackt ausgeübt werden, während sie benutzt wird, d. h. „tun Sie X oder ich werde meine Gewalt nutzen, um Ihnen zu schaden“. Aber das erzeugt Ressentiments und fördert den Widerstand.
Die Institutionalisierung macht sich den menschlichen Geist zunutze, der sich aus Gewohnheit an Regeln hält. Eine Institution ist im Grunde lediglich ein Satz von Regeln. Man denkt sie sich aus. Man denkt sich also einen Haufen Regeln aus, die Dinge besagen wie „wenn du eines dieser Dinge tust, sagt die Institution, dass du bestraft werden musst [und das wird durch meine Macht durchgesetzt]“ oder „wenn du dies tust, wirst du von der Institution belohnt [wobei ich derjenige sein werde, der die Belohnung verteilt]“ und vor allem „wenn du X tun willst, musst du es nach dem Prozess Y tun [der zufällig mir nützt und meine anderen Interessen nicht bedroht].“ Dies verschleiert die Bedrohung durch die nackte Macht, die sich hinter einer Reihe von „fairen“ Regeln verbirgt. Alle Institutionen und Regeln haben seit Anbeginn der Zivilisation auf diese Weise existiert. Sie sind eine Möglichkeit, den Menschen, die beherrscht werden, mitzuteilen, wann und wie sie erwarten können, dass ihre Herrscher handeln, welchen Tribut sie zahlen müssen und welchen Schutz sie vor konkurrierenden Herrschern erhalten. Wie Joe Biden 2016 in einer legendären Rede erklärte: „We are America. Second to none. And we own the finish line.“
Außerdem verbinden viele Menschen Beständigkeit und feste Grundsätze mit Fairness oder zumindest mit Vertrautheit, was den Unmut über die Vorherrschaft verringert. Am Ende des Zweiten Weltkriegs herrschten die Vereinigten Staaten durch ihre militärische Vormachtstellung über Westeuropa. Die NATO war eine von ihnen geschaffene Institution, die die Bedrohung durch die Sowjetunion nutzte, um zu sagen: „Wenn ihr euch an unsere Regeln haltet und die Dinge auf unsere Weise macht, werden wir euch beschützen.“ Europa passt sich den kulturellen und wirtschaftlichen Wünschen der USA an, und die USA lassen es sogar zu, dass sie sich vor ihren militärischen Beiträgen drücken, weil sie dadurch noch schwächer werden und in Bezug auf ihren Schutz von den USA abhängiger sind als zuvor. Trump und JD Vance haben also recht, wenn sie Europa als Schmarotzer bezeichnen. Man kann sich die geringeren Verteidigungsausgaben nur aufgrund der Vereinigten Staaten leisten. Das ist gewollt. Der beste Weg, jemanden zu beherrschen, ist, ihm kostenlosen Schutz und materiellen Komfort zu bieten (ihn zu einem Schmarotzer zu machen) und ihn so abhängig und kontrollierbar zu machen.
Dass wir Europäer im allgemeinen nicht der Ansicht sind unter Kontrolle der USA zu sein, liegt eben an genau dieser Verschleierung der Umstände, welche die Machtausübung fast unsichtbar macht und dem Stolz sich auf die Institutionen der regelbasierten Weltordnung berufen zu können. Im Gegensatz zu Europa ist China ein Industrieland, das nicht von den USA kontrolliert wird, und das ist so bizarr für die typische US-Erfahrung, dass viele Amerikaner China als Feind betrachten, obwohl es einfach nicht unter US-Kontrolle steht. Die meisten NATO Staaten hingegen erlauben den Vereinigten Staaten, Militärbasen auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu errichten, was, wenn man es objektiv betrachtet, so ziemlich der größte Akt der Unterwerfung ist, den ein souveränes Land begehen kann. Und zwar deshalb, weil dies unter dem Deckmantel der NATO geschieht („wir sitzen alle im selben Boot… naja, auch wenn die USA 90% der Show abziehen“).
Die NATO ermöglicht es den USA, Westeuropa vollständig zu beherrschen, ohne dass es so aussieht, als ob sie das Sagen hätten, und das zu tun, was man früher Kolonisierung nannte, indem sie Militärbasen in fremden Gebieten unterhielten (stellen Sie sich vor, wie das für jedes Land vor 1900 aussehen würde) und außerdem alle möglichen Arten von kultureller und wirtschaftlicher Dominanz. Dieses Dominanzsystem konnte seit Jahrzehnten aufrechterhalten werden, ohne dass eines der Länder wütend wurde (bis auf die Franzosen die von 1966 bis 2009 nicht in die Militärstrukturen integriert war, weil de Gaulle diese als Instrument amerikanischer Interessen verstand). In ihren Grundsätzen dienen die Weltbank und der IWF und andere Institutionen wie diese alle dem gleichen Zweck. Sie werden größtenteils von den Vereinigten Staaten geführt und dienen dazu, alle anderen Teilnehmer zu kontrollieren, indem sie die harte Macht der USA hinter einer „internationalen, auf Regeln basierenden Ordnung“ verbergen.
Denn wenn man die Regeln aufstellt (weil man die harte Macht hat), wird ein System geschaffen, in dem alle anderen nach IHREN Regeln spielen, denjenigen, die Ihnen nützen.
Was sind die Vorteile und warum musste die Nato irgendwann enden?
Kontrolle nur der Kontrolle willen mag zwar für einige Psychopathen interessant sein, aber das sind kein Beweggründe für ein weltweites Imperium. Auch Gerechtigkeit und Menschenrechte können wohl keinem der mal einen näheren Blick auf US-Regierungsorganisationen geworfen hat als Beweggründe erscheinen. Die (etwas, aber nicht viel vereinfachte) Antwort ist Petrodollar-Dominanz. Die Reservewährung der Welt zu sein bedeutet, dass die Vereinigten Staaten Dollars drucken und sie im Gegenzug für reale Güter exportieren können. Es besteht eine ständige Nachfrage nach Dollars, wenn der Großteil des weltweiten Handels in Dollar abgewickelt wird. Die Analogie zur Kolonialisierung in alten Zeiten besteht also darin, dass die Vasallenstaaten keinen Tribut („echtes Zeug“) im Gegenzug für nichts zahlen, sondern das echte Zeug im Tausch gegen Papierstücke übergeben, die die USA kostenlos drucken. Dadurch sieht es wie ein freiwilliger Handel aus, weil sie eine Gegenleistung erhalten, so dass sie sich nicht so sehr darüber aufregen, dass sie Tribut zahlen müssen. Die außenpolitischen Eliten der USA haben dies in den 50er und 60er Jahren absichtlich so eingerichtet, weil sie sahen, wie alle früheren Imperien scheiterten, weil sie ihre militärische Vorherrschaft und ihre Tributzahlungen offen zur Schau stellten: Das führte zu Unmut und schließlich zu Widerstand. Der US-Imperialismus ist sehr clever konstruiert: Er schafft eine „regelbasierte Ordnung“ mit Regeln, die er selbst aufgestellt hat, und erschafft einen synthetischen Markt für etwas völlig Erfundenes, das die USA bei Bedarf drucken (und bei Bedarf zerstören können, um die Inflation zu kontrollieren), und jeder auf der Welt verkauft sein Zeug an die USA im Gegenzug für dieses Stück Papier.
Das Problem heute ist, dass die Generation, die das System geschaffen hat, ausstirbt und die Erben zu dumm sind, um zu erkennen, dass das System zum Nutzen der USA gedacht war. Natürlich ist das nicht offensichtlich, denn wenn es offensichtlich wäre, könnte man die anderen Länder nicht täuschen. Man muss sich auch tatsächlich anstrengen, diese Dinge zu betreiben, um weiterhin die Macht auszuüben und die Vorteile daraus zu ziehen. Wenn man nur passiv herumsitzt und Treffen abhält, bei denen man LARP spielt und so tut, als seien die anderen Nationen gleichberechtigte Mitglieder, dann sieht es so aus, als würden sie schmarotzen und sich beschweren und die USA hätten nichts davon.
Dabei geht es weniger um den faktischen Nutzen des Systems. Denn obwohl die Finanzeliten natürlich die meisten Gewinne dieses Systems einstreichen, erhalten auch die abgehängten Schichten, die sich durch Trump vertreten fühlen ihren Anteil. In keinem Land dieser Welt hat der Median Einwohner ein höheres bereinigtes verfügbares Einkommen als in den Vereinigten Staaten. Das Problem ist mehr ein emotionales. Dass die USA Geld für die Verteidigung Europas und weiterer Vasallenstaaten ausgeben direkt ersichtlich und leicht populär darstellbar. Die Gegenseite hat dahingegend eine deutlich schwierigere Aufgabe vor sich. Zum einen sind die Warenflüsse in die USA deutlich weniger griffig darstellbar beziehungsweise werden sogar abstruserweise als Handelsdefizite negativ konnotiert, zum anderen lässt sich in der modernen Welt der medialen Gleichzeitigkeit auch nicht wirklich offen drüber reden, ohne dass die Untertanen des Empire auch davon mitbekommen.
Progredere Europa, et noli respicere.
Schreite voran Europa, und blick nicht zurück. Wir haben nun eine einzigartige Situation vor uns. Ein Imperium, welches sich selbst auflösen möchte. Vielleicht mag dies auch langfristig für die USA besser sein. Sie sind nach dem zweiten Weltkrieg in diese Rolle geschlittert und haben sich von ihrem eigentlich Nationaldogma, der Monroedoktrin, verabschiedet. Sie können in einem neuem Isolationismus wieder zu sich selbst finden, ihrer Wirtschaft wieder eine industrielle Basis geben und sich auf innere Probleme konzentrieren. Was auch immer ihr Weg sein möge. Eines sollte Europa nicht tun: Versuchen die USA wieder in ihre alte Rolle zurückzudrängen und somit diese einmalige Chance auf Veränderung verwirken. Die Deutschen werden mit der Atlantikerunion an der Spitze vermutlich nicht die Vorprescher für ein eigenständiges Europa sein (wobei manchmal die großen Verwerfungen ja gerade nur von der Partei kommen können, die eigentlich auf der anderen Seite stehen [Hartz-Reformen SPD – Flüchtlingswende CDU]), aber unsere Politiker sollten doch zumindest ihr bestes tun, sich von den Franzosen an die Hand nehmen zu lassen (ich hätte nie gedacht so etwas mal zu sagen). Es steht uns eine selbstbestimmte Zukunft offen, befreit vom Joch der USA wieder einen eigenen Platz in der Weltordnung einnehmen zu können. Selbst eine multipolare Handelsordnung wäre eine Möglichkeit. Man mag mich einen Fantasten nennen, aber ich denke ein wenig wird man ja noch träumen dürfen.
Ζήτω ἡ Ἐυρώπη